Du sollst mich nicht anziehen!! Wenn mein Kind wieder eine „Trotzphase“ hat

Anzieh-Stress und Kleider-Krieg am Morgen

Und täglich grüßt das Murmeltier

Es ist früh morgens und wir sind auf dem Weg zum Kindergarten und meine Kinder und ich sind alle gut drauf. Doch dann kommt die Situation, in der wir uns richten müssen. Das heißt konkret: Jacken und Schuhe anziehen. Wenn es besonders kalt ist, müssen auch noch Mützen, Schals und Handschuhe angezogen werden. Gar keine leichte Sache. Denn meist habe ich eine andere Vorstellung über den Ablauf, als meine Kinder dies haben. Ich will so schnell wie möglich fertig werden und pünktlich aus dem Haus kommen, doch der Plan meiner Kinder sieht anders aus.

Mama will schnell – Kind will alles alleine machen

Während ich alle Kleider hinlege und mir eines meiner Kinder zu mir hole, um es anzuziehen, fängt dieses an herum zu „trotzen“ und irgendwann wird es immer unerträglicher, da mein Kind sich selbst anziehen will. Ich weiß aber aus Erfahrung, dass dies ziemlich viel Zeit in Anspruch nimmt und wir dann mal wieder zu spät kommen würden. Während ich also mit meinem ersten Kind am „kämpfen“ bin, fängt zusätzlich das Zweite aus Langeweile an, Dinge aus den Schubladen und Schuhschränken heraus zu zerren. Meine Nerven liegen also bald ziemlich blank. Innerlich frage ich mich dann, warum das jeden Tag eigentlich so ablaufen muss!? Kind zieht Schuhe selbst an

Am Ende wieder nur Stress

Irgendwann sind wir so weit, dass ich ganz entnervt die Kinder ohne Rücksicht auf ihr Geschrei anziehe und ins Auto setze, die Taschen hole und dann selbst völlig erschöpft und mit einem ziemlich schlechten Gewissen ins Auto steige. Die Kinder sind nun natürlich sauer auf mich und da sind wir wieder – alle haben keine Lust mehr auf den Tag. Da frage ich mich, wie man das ändern kann? Um zu verstehen, warum meine Kinder (und die anderer Familien ebenfalls), immer alles „alleine machen“ wollen, musste ich lernen, was die Hauptgründe solcher „Trotzphasen“ sind.

Selbstwirksamkeit vs. Opferrolle

Unsere Kinder sind von Geburt an wissbegierige und neugierige kleine Menschen, die jeden Tag durch Spielen und Probieren ihre Erfahrungen sammeln wollen. Der kanadische Psychologe Albert Bandura prägte den Begriff der Selbstwirksamkeit. Er beschreibt unser „Ich“ oder unser „Selbst“, mit dem wir fühlen, denken und handeln, als ein System verschiedener Überzeugungen über die eigene Person. Er kam zu der Erkenntnis, dass Menschen meistens nur dann eine Handlung beginnen, wenn sie davon überzeugt sind, dass sie diese Handlung auch tatsächlich erfolgreich ausführen können. Er definiert das so:

„Wahrgenommene Selbstwirksamkeit bezieht sich auf Überzeugungen über diejenigen eigenen Fähigkeiten, die man benötigt, um eine bestimmte Handlung zu organisieren und auszuführen, um damit bestimmte Ziele zu erreichen“

Das Gegenteil der Selbstwirksamkeit ist die erlernte Hilflosigkeit – Opferrolle. Ok, ich will meine Kinder also gerne selbstwirksam erziehen und aufwachsen lassen und keine hilflosen Opfer, die nur meinen Anweisungen folgen. Doch wie mache ich das?

Aufbau von Selbstwirksamkeit von Anfang an

Selbstwirksamkeit entsteht im ersten Lebensjahr und entwickelt sich ein Leben lang. Schon drei Monate alte Babys haben Erwartungen. Sie wollen kommunizieren und machen dies mit ihrem ganzen Körper, sie signalisieren uns etwas und erwarten darauf eine Reaktion von uns. Zunächst tun Babys einfach nur Dinge, weil sie Freude am Tun haben:

  • Sie spielen mit ihren eigenen Händen
  • Sie stecken Dinge in den Mund
  • Sie machen lustige Geräusche

Doch im Verlauf des ersten Lebensjahres entwickeln sich die ersten Selbstwirksamkeitserwartungen. Dann kommt die Freude am Effekt hinzu, also die Freude am „Das habe ich gemacht!“ Zum Beispiel dann, wenn das Kind ein Spielzeugauto herumwirft und dieses irgendwo mit einem schönen lauten Knall landet. Das Kind weiß dann: „Ich bin mir sicher, ich kann das Auto da hinten hinwerfen.“ Und ich bin mir auch sicher, dass dann die Mama kommt und guckt, was das für ein Krach ist. Was bedeutet das für uns? Säuglinge beherrschen das Interpretieren sehr gut. Dies müssen sie deshalb so gut, da sie bei der Bewertung aller Dinge anfangs auf die Reaktionen ihrer Umwelt angewiesen sind, solange ihnen selbst noch eigene Erfahrungen fehlen.

Einfachheit in den Alltag bringen

Mit dieser neuen Erkenntnis begann ich also meinen Alltag mit den Kindern umzukrempeln. Anstatt tagtäglich nachmittags den „Entertainer“ zu spielen, fing ich an ihre Bedürfnisse mehr in den Mittelpunkt zu stellen und sie selbst wirklich mehr aktiv werden zu lassen.

  • Kinder wollen ihre eigenen Erfahrungen machen
  • Kinder wollen uns nachahmen
  • Kinder wollen uns gefallen und sind stolz auf ihre neuen Errungenschaften
  • Kinder zeigen uns gerne, was sie Neues gelernt haben

Plötzlich haben wir ganz andere Ideen und Anregungen, wie wir unsere Tage gestalten können. Manchmal verkleiden wir uns und dabei dürfen die Kinder sich in Ruhe selbst anziehen. Mein vierjähriger Sohn ist dabei noch oft ungeduldig, doch da wir Zeit haben, lasse ich ihn machen und frage ab und an mal, ob ich ihm denn helfen darf. Das ist meist keine Option für ihn, aber ich bin nicht mehr genervt! Wenn er sich seine Jacke und Schuhe selbst angezogen hat, kommt er ganz stolz auf mich zu und zeigt mir, dass er es selbst geschafft hat. Auch meine zweijährige Tochter will schon vieles selbst machen. Deshalb darf sie sich aussuchen, was sie sich als erstes anziehen möchte. Sie holt dann ganz eifrig ihre Sachen und probiert sie sich anzuziehen. Bei ihr darf ich dann auch nachhelfen, wenn ich sie frage.

Kinder sind die geborenen Kooperationspartner

Nachdem wir nun etwas mehr Ruhe und Zufriedenheit erlangt haben, versuche ich diese Strategie auf andere Situationen zu übertragen. Das heißt konkret: Wollen wir doch mal sehen, wie wir das schaffen, wenn es wieder einmal schneller gehen muss und ich Termine einhalten möchte, aber auch meine Kinder berücksichtigen will. Panik steigt in mir auf, da ich nicht wirklich überzeugt bin, dass sie dann mitmachen werden und wir am Ende nicht wieder völlig genervt und enttäuscht im Auto sitzen.

Es geht ja doch

Zu meinem Erstaunen klappte das viel besser, als ich erwartet hatte. Kinder sind zu ihrem eigenen Überleben nämlich auf die Anerkennung, Liebe und Hilfe von uns Eltern oder anderen Bezugspersonen angewiesen, deshalb wollen sie uns gefallen und kooperieren gerne. Wenn ich sie also die meiste Zeit machen lasse und sie nur ab und zu unterstütze, gestatten sie auch mir, in hektischeren Situationen, ihnen etwas abzunehmen bzw. mich komplett machen zu lassen. Ich erklärte zu Beginn: Heute haben wir einen wichtigen Termin und müssen dort pünktlich sein. Ich weiß, dass ihr euch gerne selbst anziehen wollt und das auch schon richtig gut könnt. Das habt ihr in letzter Zeit ziemlich oft gemacht und ich habe gesehen, wie ihr immer schneller werdet und es euch leichter fällt. Darf ich euch einen Vorschlag machen? Heute ziehe ich euch an, damit wir ganz schnell fertig sind und die Ersten bei dem Termin sind? Dann muss auch niemand auf uns warten.

Erster sein

Meine Hoffnung wurde bestätigt. Meine Kinder ließen sich mit Freude anziehen. Wir waren schnell, hatten noch etwas zu lachen, weil ich natürlich auch nicht alles richtig gemacht habe (das gefällt meinen Kindern dann besonders gut 😊) und wir waren sogar „die Ersten“ bei unserem Termin. Erster sein, das scheint bei Kleinkindern immer ein großes Thema zu sein und ich habe damit echt punkten können. Kleiner Trick, mit großer Wirkung 😉 Für weitere tolle Anregungen schaut auch gerne auf diesem Blog vorbei, diese Mama rockt das auch ganz toll finde ich!

10 Tipps, wie man sein Kind selbstwirksamer aufwachsen lassen kann

1. So viel es geht, selber machen lassen

Im Alltag lasse ich meine Kinder viel selbst machen. Sie dürfen mir beim Kochen, Staub saugen und putzen helfen. Jedes Kind bekommt seinem Alter entsprechend eine eigene Aufgabe zugewiesen und ich betone immer wieder, wie sehr ich ihre Hilfe benötige und ob sie mir bitte helfen könnten. Das lassen sie sich meist nicht zweimal sagen und führen ihre Aufgaben mit größtem Elan und großer Freude aus.

2. Verantwortung übernehmen lassen

Kinder wollen helfen und übernehmen auch gerne Verantwortung, wenn man sie lässt. Wenn man zum Beispiel den Tisch deckt, dürfen meine Kinder die „richtigen“ Teller und Gläser oder Tassen nehmen und auf den Tisch stellen. Kleineren Kindern gibt man einfach nur ein oder zwei Teller und den Älteren gibt man schon mal einen größeren Stapel. Dies fördert ihr Selbstbewusstsein, bzw. ihre Selbstwirksamkeit und sie freuen sich auf die Herausforderung und gehen von daher ziemlich verantwortungsbewusst mit zerbrechlichen Dingen um.

3. Bei „Missgeschicken“ nicht sofort das Handtuch werfen

Manchmal geht selbstverständlich auch mal etwas zu Bruch oder einfach nur daneben. Aber will ich dann wirklich sofort die Sache beenden und meinem Kind dadurch eine große Enttäuschung zumuten? Es wollte doch so gerne helfen und alles richtig machen. Auch in solch einer Situation kann die Selbstwirksamkeit weiterhin gestärkt werden, indem ich mein Kind unterstütze und sage: Oh das ging daneben, lass uns das zusammen aufräumen. Kannst du mir bitte den Handfeger und die Kehrschaufel bringen und danach können wir weiter den Tisch decken.

4. Nicht zu viel auf einmal

Wir erwarten von unseren Kindern oft, dass sie brav sind und nichts kaputt machen. Deshalb lassen wir sie nicht mitmachen. Am Ende können sie dadurch oftmals ihre Fähigkeiten nicht ausbauen und wenn sie „alt“ genug sind wundern wir uns, warum sie etwas nicht können. Wir müssen unsere Kinder nicht alles auf einmal machen lassen (das würde sie auch überfordern). Aber wenn wir sie Stück für Stück eine Aufgabe bewältigen lassen, fördert das ihre Selbstwirksamkeit und sie haben immer wieder kleine Erfolgserlebnisse.

5. Langsam die Herausforderungen steigern

Wenn ein Kind etwas Schwieriges geschafft hat, dann wird es in Zukunft überzeugt sein, dies auch wieder schaffen zu können. Es wird sich neuen Herausforderungen stellen und aus der Erfahrung schöpfen. Wir als Eltern kennen unsere Kinder am besten und können durch unser genaues Hinsehen lernen, welche Fähigkeiten sie haben und können sie dabei unterstützen, diese weiter auszubauen. Beispiel: Kind darf beim Tisch decken mit mir zusammen den Topf tragen, beim nächsten Mal darf es das Besteck alleine nehmen, beim übernächsten Mal dann schon die Teller usw.

6. Lobe dein Kind

Dein Kind freut sich, dir helfen zu dürfen und ist stolz darauf, so viel alleine machen zu dürfen! Du darfst es auch gerne einmal dafür loben, welch große Hilfe es für dich ist.

7. Nimm Veränderungen wahr

Wie oft übersehen wir kleine Veränderungen? Unsere Kinder können plötzlich Dinge, die sie vorher nicht konnten und wir wundern uns dann, woher sie das können. Wenn wir sie bewusst machen lassen und sie unterstützen, wenn sie danach fragen, lernen Kinder am liebsten und schnellsten. Wir können dann direkt beobachten, wie sie experimentieren und sich stetig verbessern. Diese bewusste Aufmerksamkeit, stärkt unsere Kinder.

8. Positives Feedback geben

Ehrliches und positives Feedback steigert die Motivation. Wir müssen von der Aufrichtigkeit solcher Aussagen jedoch überzeugt sein. Sobald der Eindruck besteht, so ein Satz sei nur aus Nettigkeit oder zur Beruhigung daher gesagt, bleibt er unwirksam. Kinder in einer Art „Automatismus“ immer darin zu bestätigen, dass sie das Ding schon irgendwie meistern werden, ohne wirklich davon überzeugt zu sein, hat einen nachhaltigen gegenteiligen.

9. Modelllernen – mit gutem Beispiel vorangehen

Unsere Kinder lernen von uns und wenn wir mit gutem Beispiel voran gehen, dann kommt das auch bei ihnen an. Wir dürfen uns freuen, wie unsere Kinder uns nachahmen und brauchen deshalb nicht immer wie in „alten Zeiten“ mit dem erhobenen Zeigefinger die Kinder „erziehen“.

10. Mehr Zutrauen in die Fähigkeiten unserer Kinder

Das Zutrauen der anderen ist die Basis für das Selbstvertrauen gegenüber den vielfältigen Anforderungen, mit denen das Kind in den verschiedenen Entwicklungsphasen konfrontiert wird. Wir dürfen gerne einfach den Mut haben unsere Kinder mehr selbst machen lassen. Wir sind ihr sicherer Hafen, bei uns dürfen sie auch mal Fehler machen und lernen wieder aufzustehen und weiter zu machen!